Mut zur Verletzlichkeit: Wie Sie auch ohne Schutzpanzer gut führen

Wie Sie auch ohne Schutzpanzer gut führen | NADJA HENRICH

Viele Führungskräfte tragen ihn: einen unsichtbaren Schutzpanzer. Das ist grundsätzlich von Vorteil. Etwa dann, wenn sie in dynamischen, anspruchsvollen Kontexten Stärke demonstrieren müssen. Doch dieser Panzer schützt nicht nur – er isoliert. Und er verhindert genau das, was moderne Führung heute braucht: Beziehung, Vertrauen, menschliche Tiefe. Wie kann dieses Dilemma aufgelöst werden? Anders gefragt: Was passiert, wenn Führungskräfte aufhören, stark wirken zu müssen – und einfach damit anfangen, stark zu sein? In diesem Beitrag möchte ich darauf ein paar Antworten geben.

Lesedauer: 4 Minuten

Welche Funktion der emotionale Schutzpanzer hat

„Ich muss funktionieren. Gefühle kann ich mir in meiner Rolle nicht leisten.“ Das ist ein Satz, der mir als Coach und Beraterin in Führungsetagen immer wieder begegnet. Neben Pflichtgefühl schwingt häufig auch Erschöpfung mit – und eine tiefe Sehnsucht. Nämlich danach, endlich authentisch führen zu dürfen, ohne das Gefühl, sich ständig hinter eine Maske zu verstecken.

In Führungssituationen herrscht oft ein unausgesprochenes Ideal vor: Stärke bedeutet Unerschütterlichkeit. Gefühle? Stören nur. Das führt dazu, dass viele Führungskräfte mit der Zeit einen emotionalen Schutzpanzer entwickeln – bewusst oder unbewusst. Dieser Panzer hilft, Distanz zu wahren, Entscheidungen kühl zu treffen und Druck standzuhalten.

Doch dieser Schutz hat seinen Preis. Er verhindert Resonanz – also die Fähigkeit, sich wirklich mit anderen zu verbinden. Wer sich schützt, schützt sich nicht nur vor Angriffen, sondern auch vor Nähe. Und das hat Folgen: Beziehungen im Team bleiben oberflächlich, Konflikte ungelöst, Vertrauen wird durch Effizienz ersetzt. Führung wird funktional, aber nicht wirksam. Die Führungskraft agiert, aber sie berührt nicht.

Langfristig führt dieser Mechanismus zu Erschöpfung, Isolation oder sogar innerem Rückzug. Die eigentliche Führungswirkung – die über Beziehung, Vorbild und Menschlichkeit entsteht – bleibt auf der Strecke. Was einst Sicherheit spendete, kann dadurch für Führungskräfte zu einer echten inneren Belastung werden.

 

Warum emotionale Distanz Wirkung kostet

Viele Führungskräfte tragen das Bild in sich, dass Gefühle Privatsache sind. Sie haben in Besprechungen, Strategiedialogen oder Zielvereinbarungen nichts zu suchen. Dahinter verbirgt sich die Angst, dass Emotionen die Professionalität untergraben oder den eigenen Einfluss schwächen könnten. Doch genau hier beginnt das Dilemma.

Denn Gefühle lassen sich nicht wirklich unterdrücken. Sie finden auch durch Körpersprache, zwischen den Zeilen, in Entscheidungen ihren Ausdruck. Wer Emotionen nicht bewusst zulässt, wird von ihnen unbewusst beeinflusst. Ärger, Angst, Unsicherheit oder Enttäuschung treten dann oft unkontrolliert und missverständlich zu Tage.

Teams spüren diese Spannungen. Und sie spüren auch, wenn Führungskräfte innerlich nicht mit sich im Einklang sind. Das senkt nicht nur das Vertrauen, sondern auch das Commitment der Mitarbeitenden. Wenn Führung nur noch als Fassade erlebt wird, verliert sie an Tiefe – und damit an Wirkung. Was emotionale Distanz also kurzfristig an Klarheit und Kontrolle zu bieten scheint, kostet langfristig Verbindung, Glaubwürdigkeit und Orientierungskraft. Im Umkehrschluss lautet die Erkenntnis: Emotionale Offenheit ist keine Bedrohung für Führungsautorität, sondern ihr Fundament.

 

Weshalb Verletzlichkeit eine Haltung und keine Schwäche ist

Verletzlichkeit wird bei Führungskräften gerne mit emotionaler Schwäche oder Kontrollverlust gleichgesetzt. Doch in Wahrheit ist sie das Gegenteil: Ein Ausdruck von innerer Stärke, Selbstbewusstsein und Präsenz.

Verletzlichkeit bedeutet, die eigene Unvollkommenheit nicht zu verstecken, sondern sie als Teil der Führungsidentität zu integrieren. Dabei geht es nicht um Selbstentblößung oder emotionale Dominanz. Es geht um Klarheit, um bewusste Präsenz. Führungspersönlichkeiten, die sich in Momenten der Unsicherheit zeigen – ohne sich zu verlieren –, erzeugen Vertrauen. Denn Mitarbeitende erleben sie als glaubwürdig, zugänglich und echt. In einer Welt, in der Wandel die einzige Konstante ist, wirkt das stärker als jede perfekt inszenierte Souveränität.

 

Warum psychologische Sicherheit bei der Führungskraft beginnt

Psychologische Sicherheit gilt heute als einer der entscheidenden Faktoren für Teamleistung, Innovationsfähigkeit und gesunde Zusammenarbeit. Sie ermöglicht jedem und jeder Einzelnen, sich mit Ideen, Kritik oder auch Unsicherheiten einzubringen – ohne Angst vor Zurückweisung.

Doch diese Sicherheit entsteht nicht durch schöne Worte. Sie beginnt bei der Führungskraft und ihrem Umgang mit sich selbst. Wer sich selbst mit einem Schutzpanzer umgibt und keine Fehler, keine Emotionen, keine Zweifel erlaubt, sendet ein klares Signal: Hier zählt nur Kontrolle.

Führungskräfte prägen mit ihrem Verhalten den emotionalen Ton im Team. Wenn sie sich menschlich zeigen, wenn sie Verletzlichkeit als normale Facette von Entwicklung und Zusammenarbeit anerkennen, entsteht psychologische Sicherheit.

Das erfordert Mut und Klarheit. Aber es lohnt sich: Teams, die sich sicher fühlen, sind kreativer, mutiger und leistungsfähiger (siehe auch Warum gute Führung Sicherheit gibt).

 

Wie Nähe und Autorität in Balance kommen

Eine häufige Sorge in meiner Arbeit mit Führungskräften lautet: „Wenn ich mich zu sehr öffne, verliere ich den Respekt meiner Mitarbeitenden.“ Doch Führung lebt von Balance: zwischen Nähe und Distanz, zwischen Menschlichkeit und Struktur, zwischen Offenheit und Orientierung. Emotionale Präsenz darf nicht zu Verbindlichkeitsverlust führen – aber sie darf auch nicht unterdrückt werden, um Autorität zu retten.

In der Praxis heißt das: Gefühle dürfen sichtbar sein – aber reflektiert und professionell eingeordnet. Die Führungskraft bleibt handlungsfähig, gerade weil sie emotional präsent ist. Sie schafft Nähe, ohne sich zu verlieren – und damit einen Raum, in dem beides möglich ist: Vertrauen und Führungsklarheit. Diese Balance zu finden, ist eine Kompetenz. Und wie jede Kompetenz kann sie entwickelt und trainiert werden.

 

Welche Schritte für mehr emotionale Präsenz Sie gehen können

Emotionale Präsenz zu entwickeln, bedeutet nicht, ab morgen alles anders zu machen. Es beginnt mit einem bewussten Perspektivwechsel. Und mit der Bereitschaft, sich auf einen inneren Prozess einzulassen.

Hier einige vertiefte Schritte, die Sie dabei unterstützen können:

  • Selbstbeobachtung kultivieren – Führen Sie ein Reflexionsjournal über innere Zustände. Welche Gefühle zeigen sich in Konfliktsituationen? Was wird unterdrückt, was überspielt? Wer sich selbst klarer wahrnimmt, gewinnt auch mehr Handlungsspielraum.
  • Emotionale Signale ernst nehmen – Gefühle sind keine Schwäche, sondern ein Frühwarnsystem. Wenn Sie Reizbarkeit, Erschöpfung oder Unruhe spüren, dann ignorieren Sie das nicht. Fragen Sie sich stattdessen: Was braucht dieser Teil in mir gerade? Wo darf ich für mich sorgen?
  • Neue Sprache üben – Viele Führungskräfte scheuen sich, Emotionen in Worte zu fassen. Beginnen Sie mit kleinen Sätzen: „Ich nehme gerade Spannung wahr“, „Das hat mich innerlich bewegt“. Solche Aussagen sind klar, ruhig und wirkungsvoll.
  • Räume für Dialog schaffen – In Teamgesprächen können gezielte Fragen helfen, das emotionale Klima zu öffnen, z. B. „Was hat euch in letzter Zeit wirklich beschäftigt?“ oder „Was würden wir sagen, wenn hier absolute Offenheit herrschen würde?“
  • Sich Unterstützung holen – Emotionale Kompetenz ist entwickelbar, beispielsweise mit Maßnahmen wie Coaching, Supervision oder Peer-Gruppen-Treffen. Diese „Unterstützungsmaßnahmen“ sind Ausdruck professioneller Selbstführung. Denn wer sich begleiten lässt, nimmt sich selbst und andere ernst.

Wichtig: Es geht nicht darum, emotional zu wirken, sondern emotional anwesend zu sein. Das macht den Unterschied und schafft einen neuen Führungsraum: authentisch, reflektiert, kraftvoll.

 

Fazit: Führung beginnt beim Menschsein

Wir leben in einer Zeit, in der alte, hierarchisch geprägte Führungsbilder brüchig werden. Veränderungen, Unsicherheiten und gestiegene Anforderungen verlangen heute etwas entscheidend Anderes: Echtheit. Also die Fähigkeit, sich als Mensch in der eigenen Führungsrolle zu zeigen (siehe dazu Authentischer und erfolgreicher durch emotionale Führung). Verletzlichkeit ist vor diesem Hintergrund eine Voraussetzung, damit Vertrauen entstehen kann. Und Vertrauen wiederum ist die Grundlage für alles, was Führung heute ausmacht. Eine Art von Führung, die nicht nur steuert, sondern verbindet.

Das erfordert innere Klarheit und ein hohes Maß an Selbstverantwortung. Es erfordert, dass Sie sich selbst aushalten, sich selbst zumuten – mit all Ihren Ecken, Kanten, Unsicherheiten. Dieser Beitrag ist deshalb als Einladung zu verstehen, Verletzlichkeit nicht länger als Risiko zu sehen, sondern als eine kraftvolle Quelle von Führung.

Wenn Sie als Führungskraft den Mut finden, diesen Weg zu gehen, verändern Sie nicht nur Ihre eigene Wirkung, sondern auch die Zusammenarbeit in Ihrem Team. Es lohnt sich also, den eigenen, unsichtbaren Schutzpanzer abzulegen. Wenn Sie dabei Unterstützung wünschen oder einfach nur offene Fragen haben, dann …

 

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