Die Last der Perfektion: Warum zu hohe Maßstäbe Ihrem Team schaden können

Die Last der Perfektion | NADJA HENRICH

Eigentlich klingt es fast wie ein Paradoxon, wenn man von der Last der Perfektion spricht. Je näher die eigene Leistung am Ideal ist, desto besser. Oder nicht …? Tatsächlich hängt das ganz wesentlich von der Erwartungshaltung ab, die Führungskräfte an sich selbst und ihr Team setzen. Der Drang, exzellente Leistung zu erbringen, ist nachvollziehbar. Doch unrealistische Erwartungen können den Erfolg sabotieren und zu Frust führen. In diesem Beitrag zeige ich Ihnen auf, wie Sie Ihre eigenen Maßstäbe justieren und ihr Team gesund führen können.

Lesedauer: 3 Minuten

Der Ursprung überhöhter Maßstäbe

Die meisten Führungskräfte sind nicht zufällig in ihre Rolle gekommen. Sie haben sich durch Leistung, Disziplin und Verantwortungsbewusstsein hervorgetan – oft über Jahre hinweg. Doch genau hier liegt eine Stolperfalle. Denn viele Führungskräfte sind der unbewussten Überzeugung: „Nur wenn ich konstant mehr leiste als erwartet, bin ich wertvoll.“

Diese Denkweise verankert sich tief – und wird von Führungskräften gerne auf das Team übertragen. Wer selbst nur selten Lob erhalten hat, hat oft auch Schwierigkeiten, es weiterzugeben. Und wer sich an Perfektion misst, erkennt selten die Realität anderer an.

Ein Beispiel aus meinem Coaching-Alltag:

Ein Teamleiter, bekannt für seine Detailgenauigkeit, brachte seit Jahren Top-Ergebnisse gemeinsam mit seinem Team. Jedoch trat bei ihm die oben genannte Last der Perfektion zutage, denn er korrigierte seine Mitarbeitenden in jedem Meeting. Die Teammitglieder fühlten sich deshalb immer wieder klein gemacht und zu wenig wertgeschätzt, obwohl sie beständig gute Leistung ablieferten. Die Eigeninitiative im Team sank, das Vertrauen in den Chef nahm ab.
Im Zuge eines begleitenden Coaching-Prozesses gingen wir den Entwicklungen in seinem Team gemeinsam auf den Grund. Dabei kam er Schritt für Schritt zu der Erkenntnis, dass seine Ansprüche überhöht waren und deshalb nicht zum Erfolg führten.

 

Die unsichtbare Spirale aus Erwartung und Druck

Hohe Erwartungen können etwas Gutes sein und die Motivation steigern. Wenn sie überhöht und unrealistisch zu erreichen sind, dann können sie aber genauso gut auch lähmend wirken. Gefährlich wird es, wenn eine Spirale aus unerfüllten Erwartungen und steigendem Druck von Seiten der Führungskraft entsteht.

Auslöser für so eine Spirale können sein:

  • Perfektionismus als Standard – Fehler werden nicht toleriert, sondern als Schwäche ausgelegt.
  • Unklare Erwartungen – Mitarbeitende wissen nicht, woran sie sind, weil ihre Führungskraft die Ziele im Unklaren lässt.
  • Dauerhafte Unzufriedenheit – Selbst bei Erfolgen liegt der Fokus sofort auf dem nächsten Ziel, ohne jegliche Anerkennung des bereits Geleisteten.

Symptome im Alltag sind u. a.:

  • Mitarbeitende stellen Rückfragen wie: „Ist das okay so?“.
  • Projekte werden überarbeitet, obwohl sie bereits gut sind.
  • Kreative Vorschläge werden nicht mehr geäußert, aus Angst, Erwartungen nicht zu erfüllen.

Was Sie tun können:

  • Zieltransparenz schaffen – Machen Sie Ihrem Team klar, was „gut genug“ ist. Definieren Sie eine Minimal- und eine Optimal-Erwartung.
  • Positive Fehlerkultur etablieren – Besprechen Sie offen, was nicht geklappt hat und welche Lehren Sie gemeinsam daraus ziehen können – ohne jegliche Schuldzuweisung.
  • Emotionale Sicherheit fördernStärken Sie das Selbstwertgefühl Ihrer Teammitglieder und bauen Sie gezielt Vertrauen auf.

 

Demotivation trotz guter Leistung

Wenn Erwartungen dauerhaft zu hoch sind, dann verlieren Mitarbeitende nicht nur ihre Kraft, sondern auch ihre Motivation.

Negative Folgen von übersteigerten Erwartungen:

  • Emotionale Erschöpfung – Ständige Anstrengung ohne positives Feedback führt zu mangelndem Commitment bis hin zur inneren Kündigung.
  • Rückzug und Vermeidung – Mitarbeitende übernehmen weniger Verantwortung oder verbergen Fehler.
  • Sinkende Teamdynamik – Kolleg:innen fangen an, sich gegenseitig zu vergleichen oder die Schuld weiterzureichen.

Konkrete Anzeichen im Alltag können sein:

  • Die Leistungen im Team stagnieren trotz großer Anstrengung.
  • Gespräche werden immer sachlicher geführt oder gar aktiv vermieden.
  • Die Zufriedenheit im Team sinkt. Womöglich kommt es zu einer Häufung von Eigenkündigungen oder Versetzungswünschen.

Was Sie aktiv tun können:

  • Mikro-Anerkennung etablieren – Nicht jedes Lob muss groß sein. Manchmal reicht ein „Gut gemacht“ zur richtigen Zeit.
  • Leistungsdialoge etablieren – Mindestens einmal pro Halbjahr sollten Sie mit Ihren Mitarbeitenden über deren individuelle Entwicklung sprechen, und zwar außerhalb der Tagesroutine.
  • Individuelle Stärken fördern – Geben Sie Ihren Mitarbeitenden Aufgaben, die zur jeweiligen Persönlichkeit passen, statt an alle denselben Maßstab anzulegen.

 

Objektivität trainieren und der Last der Perfektion entfliehen

Viele Führungskräfte bewerten Leistungen unbewusst durch ihre eigene Brille. Dabei sind sie vorgeprägt durch ihre eigenen Maßstäbe, Erfahrungen und Erfolge. Das führt zu Verzerrungen.

Typische Bewertungsfehler sind z. B.:

  • „Ich-hätte-das-anders-gemacht“–Fehlschluss – Die eigene Arbeitsweise wird zum Maß aller Dinge.
  • Halo-Effekt – Einzelne Fehler oder Schwächen überstrahlen die Gesamtleistung.
  • Confirmation Bias – Frühere Urteile beeinflussen die aktuelle Wahrnehmung („Er oder sie war ja schon immer schwach in der Kompetenz XY“).

Strategien zur objektiveren Beurteilung können sein:

  • Kontext beachten – Welche Ressourcen, Rahmenbedingungen oder Herausforderungen waren gegeben?
  • Fortschritte statt Endergebnisse bewerten – Wie hat sich jemand entwickelt und wo steht er oder sie heute?
  • Mehrperspektivisches Feedback einholen – Nutzen Sie 360°-Rückmeldungen oder Peer-Feedback, um Ihre Sicht auf die Dinge zu erweitern.

Mögliche Reflexionsfragen für Führungskräfte sind:

  • Habe ich die Leistung anhand von Fakten oder Erwartungen bewertet?
  • Würde ich dieselbe Einschätzung treffen, wenn sie von jemand anderem käme?
  • Was würde ich einem Kollegen raten, wenn er diese Leistung neutral bewerten müsste?

 

Handlungsempfehlungen für gesunde Führung

Zuletzt möchte ich Ihnen noch fünf wirksame Schritte an die Hand geben, mit denen Sie Anspruch und Realität in Einklang bringen können, ohne an Führungsstärke zu verlieren:

  • Eigene Antreiber hinterfragen – Schreiben Sie auf, was Sie antreibt (etwa der für Führungskräfte typische Satz: „Ich darf keine Schwäche zeigen“) und prüfen Sie, ob dieser Glaubenssatz noch hilfreich ist.
  • Ziele gemeinsam definieren – Integrieren Sie Ihr Team in die Zieldefinition, denn das stärkt deren Commitment und fördert Klarheit.
  • Positives Feedback ritualisieren – Nutzen Sie Meetings oder Wochenrückblicke für gezieltes Lob und achten Sie dabei auf Authentizität.
  • Fehler als Lernchance etablieren – Erzählen Sie bewusst von Ihren eigenen Missgriffen und was daraus entstanden ist.
  • Balance schaffen – Planen Sie bewusste Zeiten für Reflexion, Austausch und Selbstfürsorge ein.

 

Fazit: Hohe Maßstäbe setzen? Ja, aber ohne die Last der Perfektion.

Hohe Maßstäbe sind ein wichtiger Teil von verantwortungsvoller Führung. Doch sie entfalten ihre Wirkung nur, wenn die Erwartungshaltungen dahinter das Team nicht dauerhaft überfordern.

Für Führungskräfte ist damit eine große Verantwortung verbunden. Sie müssen einen passenden Rahmen für Leistung und Exzellenz setzen, ohne dabei Mauern zu errichten. Sie müssen fordern, ohne zu überfordern. Sie müssen Klarheit schaffen, Vertrauen aufbauen, ihre Mitarbeitenden befähigen. Und sie müssen stets mit gutem Beispiel vorangehen – auch beim Umgang mit Fehlern und Imperfektion. Nur so entsteht eine Kultur, in der Menschen wachsen, sich entfalten und gemeinsam Großes erreichen können.

Wie steht es um Ihren Hang zur Perfektion? Und welchen Blick hat Ihr Team darauf? Wenn Sie hierauf Antworten suchen, dann …

 

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